Von komplexen Arbeitsgeräten über Solarmodule bis hin zu Waschmaschinen - Bei der Entwicklung von anspruchsvollen Produkten stehen Unternehmen vor der Herausforderung, Funktionalität und Benutzerfreundlichkeit für die Nutzer praxisgerecht umzusetzen.
Doch während die Marktforschung einen Anstieg an deskriptiver Online-Forschung erlebt, bleiben Daten aus der realen Beobachtung der tatsächlichen Verwendung der Produkte zunehmend auf der Strecke.
Marc Arnold, GIM Senior Research Director, und Benjamin Dennig, GIM Research Director, erklären Ihnen in wenigen Minuten im Interview, warum Offline-Forschung für die Optimierung technisch anspruchsvoller Produkte unverzichtbar bleibt – und wie sich Online und Offline in der qualitativen Forschung klug kombinieren lassen.
Experteninterview aus der B2B Branche
Die B2B Marktforschungswelt wird immer digitaler. Neue Online-Ansätze und KI-Tools locken mit vermeintlich leicht zugänglichen qualitativen Insights. Was bedeutet das für die Produktentwicklung?
Marc Arnold: „Grundsätzlich überschattet die Online-Forschung ein sogenanntes Transferproblem. Wir können Verhalten aus der realen Welt digital nur erforschen, indem wir darüber sprechen. Daten aus der Beobachtung, wie ein Produkt tatsächlich verwendet wird, fallen bei Online-Projekten oft weg.
Diese Tatsache führt wiederum zum nächsten Problem: besonders bei habitualisierten Verhaltensweisen zeigt sich das sogenannte ‚Blind-Spot-Problem‘. Nutzer können in Online-Interviews häufig nicht präzise beschreiben, wie sie ein Produkt ganz konkret im Alltag verwenden, weil vieles unbewusst abläuft. Die diskutierten Anwendungsabläufe sind leider meist unvollständig reflektiert oder werden von den Probanden verzerrt wiedergegeben.“
Benjamin Dennig: „Und das kompensiert auch der KI-Hype nicht. Vielmehr kommt das Risiko dazu, dass KI-basierte Analysen oft intransparent sind. Wir wissen nicht immer genau, auf welche Datensätze die KI zurückgreift, was zu unerwarteten und teilweise verzerrten Ergebnissen führen kann. Die KI trägt im Grunde auch das Transferprobem und ‚Blind-Spot-Problem‘ in sich, da sie sich ja aus Datensätzen und damit digitalen Daten speist.
KI ist also noch weiter von der analogen Welt entfernt. In gewisser Weise bekommen wir so eine 'Black Box' statt klarer Einblicke. Besonders in der Produktforschung, wo es auf Genauigkeit und spezifische Einsichten ankommt, ist das problematisch.“
Klingt, als wären Sie überzeugte „Realisten“. Was macht analoge Produktforschung anders – oder: besser?
Marc Arnold: „Gerade für B2B-Unternehmen, die komplexe technische Produkte entwickeln, besteht die größte Herausforderung darin, die tatsächliche Nutzung dieser Produkte in der Praxis zu verstehen. Sowas lässt sich oft nicht durch einfache Befragungen erfassen, da die Nutzer – in diesem Fall Fachleute oder Techniker:innen – gewohnte Verhaltensweisen nicht immer bewusst reflektieren können.
Offline-Forschung – besonders mit ethnografischen Ansätzen – ermöglicht uns als Marktforschende, reales Verhalten in der tatsächlichen Nutzungssituation zu beobachten. Im B2B-Bereich arbeiten wir oft mit hochspezialisierten Geräten oder Maschinen, deren Bedienung und Handhabung in der Arbeitsumgebung entscheidend ist.
Durch direkte Beobachtungen vor Ort können wir wichtige Optimierungspotenziale identifizieren, die online kaum sichtbar wären."
Benjamin Dennig: „Gleiches gilt für den B2C-Bereich. Hier gewinnen wir durch Beobachtungen in den Haushalten der Endverbraucher lebensnahe Einblicke, wie Küchengeräte oder Unterhaltungselektronik verwendet werden. Wir sehen ganz konkret, welche Funktionen wirklich genutzt werden und welche ungenutzt bleiben. Solche Daten können nicht nur die Kundenzufriedenheit steigern, sondern auch die wirtschaftliche Effizienz eines Produkts."
Bleiben wir in der realen Welt. Können Sie uns Beispiele aus der Praxis nennen, bei denen die ethnografische Forschung zu Produktverbesserungen geführt hat?
Marc Arnold: „Ja klar, im B2B-Bereich haben wir mit einem Kunden zusammengearbeitet, der Solarthermie-Anlagen herstellt. Die Installationsprozesse waren für die Nutzer – in diesem Fall professionelle Installateure – oft problematisch bis hin zu unmöglich.
Also haben wir die Installateure direkt bei ihrer Arbeit auf dem Dach beobachtet und konnten schnell identifizieren, an welcher Stelle es zu Schwierigkeiten kommt. Unsere Erkenntnisse führten beim Kunden zu sehr spezifischen Produktverbesserungen im Befestigungssystem, wodurch sowohl Effizienz als auch Benutzerfreundlichkeit erhöht wurden."
Benjamin Dennig: „Für einen anderen Kunden im B2C-Bereich haben wir festgestellt, dass die digitalen Funktionen von smarten Waschmaschinen, die in den Verkaufsstatistiken als stark nachgefragt erscheinen, tatsächlich in der Praxis kaum verwendet wurden. Inhome-Interviews vor Ort haben gezeigt, dass die digitalen Funktionen keine relevanten Mehrwerte lieferten – und bei vielen Nutzern sogar zu ganz neuen Problemen führten, weil die technische Anbindung oft zu schwierig war."
Im Hinblick auf die Produktoptimierung: Welchen Ansatz empfehlen Sie als Experten den Unternehmen?
Marc Arnold: „Trotz aller Herausforderungen in der Online-Forschung: Digitale und analoge qualitative Forschungsansätze haben beide spezifische Stärken. Die lassen sich gezielt ergänzen. Deshalb setzen wir bei der GIM auch auf hybride Ansätze, gerade wenn es um Produktoptimierung geht."
Benjamin Dennig: „Beispielsweise können wir digitale Tagebücher als Vorstufe für ethnografische Inhome-Interviews nutzen. Dadurch erhalten wir bereits erste Einblicke in die Nutzung von Produkten im Alltag, bevor wir im nächsten Schritt die Nutzer in ihrer Umgebung beobachten. Das funktioniert B2B und B2C.
Eine hybride Herangehensweise bietet das Beste aus beiden Welten – schnelle Erkenntnisse durch Online-Forschung und tiefgehende Einsichten durch Offline-Methoden."